Ich saß immer zweite Reihe, mittlere Reihe, denn es gibt nur drei. Ich saß in der Mitte der mittleren Reihe. Dazwischen, zwischen allen andern, die alle mittelmäßig sind. Manche der Leute kenne ich. Manche nennen mich ihre Freundin. Einer ist in mich verliebt. Er sitzt dritte Reihe. Vor ihm fühle ich mich sehr gemein. Und einer ist sogar in mich verliebt und ich in ihn, sehr stark, es drückt im Bauch, zweite Reihe. Aber die Umstände lassen es nicht zu, die Umstände – es werden am Ende wieder Zahlen sein. Die Umstände – deswegen sitze ich heute erste Reihe.
Niemand, der es nicht erlebt, wird glauben, dass eine Mathestunde so inhaltslos sein kann. Ich betrachte das brachliegende Holz der Wandleiste. Stünde die Tafel symmetrisch, sähe man sie nicht. Niemand würde glauben, dass man hier wirklich nur seine Zeit absitzt. Aber jeder fügt sich, es geht nur um die Listen.
Sogar der Tafelschwamm ist weiß. Es gibt kein Waschbecken in dem Raum. In ihm hängt weißer Staub. Er hat Zahlen zerstört, hat sie gebrochen, in sich gefangen so gut er kann. Nichts mehr als Partikel sind es. Sowieso ist alles nur Partikel. Und was an Zahlenpollen nicht weiß im Schwamm klebt, dass dickt die Luft an. Man kann die Zahlenpollen sehen. Weiß und scharfkantig hängen sie im stickigen Dunst. Wie Sterne stehen sie und ich kann durch sie laufen – ich werde zum Gott. Ob Sterne auch mal Zahlen waren?
Endlich erscheint der Lehrkörper wieder hinter den Kreidebrocken in der Luft. Er redet nicht. Also muss ich reden: sinus alpha gleich sinus hundertachtzig grad minus alpha sinus alpha gleich minus sinus dreihundertsechzig grad plus alpha minus cosinus alpha gleich cosinus hundertachtzig grad plus alpha tangens gleich sinus durch cosinus also tangens alpha …. ich sage es einfach in die Pollen hinein. gleich tangens hundertachtzig plus alpha eins und alpha zwei gleich hundertachtzig grad minus alpha - Tränen trauen sich nicht hinaus, weil sie mit dem Kreidestaub verkleben würden. Sinus alpha gleich cosinus betha gleich cosinus neuzig grad minus alpha. Meine Stimme bebt. Sie ist laut geworden und nicht mehr monoton, als ließe sie keine Zahlen erklingen sondern Worte mit Sinn, Worte die etwas verändern, die wahr sind, die wichtig sind, die schön sind. Sie ist so inbrünstig als schrie sie all die Gefühle heraus, die nicht herausbrechen dürfen, sie schlägt als Echo immer wieder gegen die numerischen Umstände wie gegen einen Steinbruch.
Mich beschleichen Zweifel ob ich überhaupt noch da bin. Bin ich? Sitze ich gerade und schreie Worte in die Klasse? Schreie ich? Träume ich?
Aber die Wut auf alles, die Wut auf Zahlen, auf den Lehrkörper, auf Listen, auf die scheinbare Korrektheit der Welt schießt durch mich hindurch, schneidet feine Ritzen in mich, fährt hindurch, nimmt mir Bewusstsein und löst mich schließlich auf. Es lässt mich aufstehen, zwingt mich dazu mich umzudrehen, ich sehe ihm in die Augen. Rede ich immer noch? Bin ich? Ist er? Sind wir? Mein Körper steigt über seinen Tisch, nimmt seinen Körper und saugt mit Gewalt alles aus ihm hinaus, was er haben will. Mein Körper saugt die Wärme seiner Haut, sein Lachen, seinen Geruch aus seinen Lippen, bis er Blut schmeckt. Blut – so schmeckt die Liebe.
Wie eine leere Hülle schmeißt mein Körper ihn danach hin, stößt sich den Weg frei und verschwindet aus dem Raum. Verschwindet, geht, geht sterben. Der Luftzug den die zuschlagende Metalltüre gebiert versucht die staubige Luft zu bewegen. Doch die Stille im Raum lässt sie starr sein.
Mein Körper hat sich aufgelöst. Und wo bin ich? Bin ich?
Ich sehe mich erstaunt um. Zwei Säulen durchstechen den Raum. Ich bin zu Pollen geworden, nicht zu Kreidepollen, zu Geistespollen. Ich schmiege mich in die dickflüssige Masse zwischen den Wänden und Körpern. Ich bin. Bei ihm. Frei und sinnvoll. Über allen andern. Über ihnen. Nie wieder dazwischen. Nie wieder.
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